50°50'03.5"N 10°56'46.1"E
Arnstadt, Brandis & Zschortau

Dieses Album spiegelt vor allem die experimentelle Phase des jungen Bach wider, die sehr stark mit Arnstadt verbunden ist. Die ausgewählten Präludien, Fugen, Fantasien und Choräle entstanden mutmaßlich zumeist in Bachs Zeit als Organist in Arnstadt und seiner Anstellung am fürstlichen Hof in Weimar als Kammermusiker, Hoforganist und später Konzertmeister. Für die Einspielung wählte Jörg Halubek drei Orgeln rund um Leipzig aus: die rekonstruierte Wender-Orgel (1703) in der Bachkirche Arnstadt, Bachs erster Organistenstelle, die Orgel von Christoph Donut (1705) in der Stadtkirche Brandis und die Orgel von Johann Scheibe (1746) in der Dorfkirche Zschortau. Die Scheibe-Orgel repräsentiert hier bereits einen späteren Typus, zu dieser Orgel existiert ein positives Gutachten von Bach selbst.

AUS DEM CD-BOOKLET:

„Tüchtig, fleißig und wohl erbauet“

„Dieses Album spiegelt die experimentelle Phase des jungen Bach wider, die sehr stark mit Arnstadt verbunden ist“, erklärt Jörg Halubek. „Ich denke, die Arnstädter Zeit war seine Übungs- und Studierzeit, was die Orgel betrifft“. 1705 nimmt Bach vier Wochen „Bildungsurlaub“, um mit dem berühmten Lübecker Organisten Dietrich Buxtehude zu arbeiten. Erst im Februar 1706 trifft Bach mit drei Monaten Verspätung wieder in Arnstadt ein. Die harmonischen Fortschritte durch Buxtehudes Unterricht werden bei der Choralbegleitung und den Improvisationen hörbar und kritisch beurteilt. Es kommt zum ersten Ärger mit dem Presbyterium

“Actum,den 21. Februar 1706
Wird der organist .. vernommen, wo er unlängst so lange geweßen, und bey wem er deßen verlaub genommen?
Ille (Jener): Er sey zu Lübeck geweßen umb daselbst ein und anderes in seiner Kunst zu begreiffen, habe aber zu vorher von dem Herren Superintendanten vm erlaubnüß gebethen.
Superindentant: Er habe nur auf 4. Wochen solche gebethen, sey aber wohl 4.mahl so lange außengeblieben.
Ille (Jener): Hoffe das orgelschlagen würde unterdeßen von deme, welchen er hiezu bestellet, dergestalt seyn versehen worden, daß deßwegen keine Klage geführet werden können.
Nos: [Wir] halten ihm vor daß er bißher in dem Chorale viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone (harmoniefremde Töne) mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret (verwirrt) worden. Er habe ins künfftige wann er ja einen tonum peregrinum (einen Ton einer entfernten Tonart) mit einbringen wolte, selbigen auch außzuhalten…….. habe bißhero etwas gar zu lang gespiehlet, …. währe……gleich auf das andere extremum gefallen und hätte es zu kurtz gemachet…” (zit. nach „Geck 1“, S24f, „Geck 2“, S. 60f)

Deshalb wählte Halubek für den ersten Teil dieses Albums die Wender-Orgel aus der Arnstädter Bachkirche aus, im zweiten Teil ist er auf zwei sächsischen Orgeln zu hören: auf der 1705 errichteten Orgel der Stadtkirche im sächsischen Brandis von Christoph Donat sowie auf dem Instrument der evangelischen Dorfkirche zu Zschortau

Das thüringische Arnstadt hat für die Bach-Familie im Allgemeinen und für den jungen Johann Sebastian Bach im Speziellen einen besonderen Stellenwert. Denn dort wirkten bereits seine Vorfahren als Spielmänner und Stadtpfeifer, Organisten und Komponisten und Hofmusiker, und Johann Sebastian trat dort seine erste Organistenstelle an, nachdem er die Lehrjahre bei seinem Bruder in Ohrdruf, einen zweijährigen Aufenthalt in Lüneburg und eine kurze Anstellung als Hofmusiker in Weimar hinter sich gebracht hatte. Im Juli 1703 hat der 18-jährige Bach die Orgel in der Neuen Kirche (heute: Bachkirche) geprüft und abgenommen, denn er war nicht nur ein glänzender Organist, sondern auch in jungen Jahren bereits als Orgelsachverständiger tätig. Er war mit dem Instrument sehr zufrieden, und auch seine Vorstellung als Orgelvirtuose war offenbar so beeindruckend, dass er wenige Wochen später die Bestallungsurkunde als Organist in Arnstadt erhielt.

Die Orgel des thüringischen Orgelbauers Johann Friedrich Wender wurde zwischen 1699 und 1703 auf der dritten Empore errichtete. Es handelt sich dabei um ein Instrument mit zwei Manualen und 21 Registern und ursprünglich 1252 Pfeifen. Die Windversorgung der Pfeifen erfolgt über 4 Keilbälge mit Trethebeln, die in einem sogenannten „Balghaus“ über der Orgel untergebracht sind. Obgleich die Bedeutung dieser Orgel als barockes Denkmal nie in Vergessenheit geriet, blieb sie dennoch nicht von diversen Umbauten verschont. Ende der 1990er Jahre wurde sie rekonstruiert, dabei konnten von den ursprünglichen 1252 Pfeifen 320 wiederverwendet werden. Am 16. Januar 2000 wurde die Orgel anlässlich der Eröffnung des Bach-Jahres neu geweiht, zusammen mit der romantischen Steinmeyer-Orgel, die 1913 zusätzlich in der Bach-Kirche eingebaut wurde.

„Obwohl es sich bei Wender-Orgel in Arnstadt um ein frühes Instrument handelt, besteht schon eine Neigung zum Spiel mit den Klangfarben“, erklärt Halubek. „So finden wir im Hauptwerk sehr viele 8-Fuß-Register mit grundtöniger Klanglichkeit wie Prinzipal Gambe, Quinta dena, Grobgedackt und Gemshorn. Die lassen sich zwar alle einzeln verwenden, aber auch miteinander kombinieren. Dadurch entstehen viele schöne Mischklänge, die fast schon romantisch anmuten.“ Bach experimentierte viel mit den klanglichen Möglichkeiten der Orgel, dabei probierte er auch viele ungewöhnliche Klänge aus: „Es gibt viele Berichte über seine Begleitungen der Gemeinde, das muss bisweilen so experimentell gewesen sein, dass die Gemeinde dazu oft nicht singen konnte“, erzählt Halubek, „weil Bach immer wieder fremde Töne und Harmonien in die Begleitung hineingemischt hat. Einige dieser Choral-Begleitungen hat er auch aufgeschrieben, die sind auch auf diesem Album zu hören.“ Um als Instrumentalist seine Virtuosität entwickeln zu können, muss man bekanntermaßen viel am Instrument arbeiten. „Deshalb hat sich Bach in den Vertrag schreiben lassen, dass er einen Kalkanten (Blasebalgtreter) bekommt, damit er an der Orgel auch üben kann“, erzählt Halubek. Zu jener Zeit war es nämlich absolut ungewöhnlich, in der Kirche regelmäßig zu üben, man empfand das als unpassend für ein Gotteshaus, weswegen die meisten Organisten sich ihre Orgelstücke auf dem Clavichord oder Cembalo erarbeiteten. Bach aber war das ein Anliegen, deshalb setzte er das durch. Eine Sache hat er in seiner Arnstädter Zeit besonders geübt: das Pedalspiel: „Da waren noch die frischen Eindrücke von Dietrich Buxtehude und der norddeutschen Orgelszene, die einen starken Akzent auf das Pedalspiel gesetzt hat“, erklärt Halubek.

Gerade einmal zwei Jahre jünger als die Wender-Orgel in Arnstadt ist das Instrument der Stadtkirche im sächsischen Brandis, das zum Landkreis Leipzig gehört. Es wurde 1705 vom damals fast 80-jährigen Leipziger Orgelbaumeister Christoph Donat erbaut und verfügt über zwei Manuale und Pedal. Musikhistorisch ist diese Orgel von besonderem Wert, da sich in ihr der Übergang vom Frühbarock zum Hochbarock manifestiert, außerdem ist sie die älteste zweimanualige Orgel mit Zwillingswindlade in Sachsen. Im Laufe der vergangenen 300 Jahre wurden zahlreiche Veränderungen und Reparaturen an der Orgel vorgenommen. 1962 gab es die vorletzte größere Reparatur, samt der Versetzung des Pedalwerkes hinter die Orgel; sie wurde vom Leipziger Orgelbaumeister Hermann Lahmann durchgeführt. Etwa die Hälfte des ursprünglichen Bestandes von Christoph Donat ist erhalten und wurde in der Restaurierung von 2006 bis 2007 überarbeitet, repariert und teilweise ergänzt. Die Balganlage auf dem Kirchenboden zur Windversorgung wurde im selben Zeitraum instand gesetzt. Um die historische Klangfülle der Orgel wiederherzustellen, wurden außer den neun originalen Registern von Donat auch fünf Register, aus aus Hermann Lahmanns Zeit wieder eingebaut. Die Wiederweihe erfolgte am zweiten Advent 2007.

Auch wenn die Donat-Orgel fast gleich alt ist wie die Arnstädter Orgel, so führt sie doch klanglich in eine ganz andere Welt. „Von allen drei Orgeln, die man auf diesem Album hört, ist sie hinsichtlich ihres Klangcharakters diejenige, die am weitesten in die Vergangenheit schaut“, stellt Halubek fest. „Sie hat einen archaischen Klang, der an Instrumente aus dem 16. Jahrhundert denken lässt. Da ist das zweite Manual eher ein Farbwerk, und das Hauptwerk hat das klassische Plenum, auch mit einer Mixtur. Auf der Aufnahme klingt sie insgesamt im Vergleich am Farbigsten, aber auch am Fremdesten.“

Die jüngste der drei Orgeln steht in der evangelischen Dorfkirche St. Nikolai von Zschortau, das wie Brandis unmittelbar in der Umgebung von Leipzig liegt. Sie wurde von 1745 bis 1746 vom berühmten Orgelbauer Johann Scheibe errichtet, der seit 1705 als Orgel- und Instrumentenmacher in Leipzig tätig war. Die Orgel verfügt über einen reich geschmückten Prospekt und bietet 13 Register auf einem einzigen Manual und Pedal. Sie wurde im Jahr 1746 von Bach persönlich geprüft und als „tüchtig, fleißig und wohl erbauet“ befunden. Die originale Abnahmeurkunde befindet sich im British Museum in London. Im Jahr 1870 wurde die Orgel von Eduard Offenhauer auf die untere Empore versetzt, außerdem kam ein Hinterwerk mit vier Stimmen hinzu.1954 setzte der Orgelbaubetrieb von Hermann Eule aus Bautzen das Instrument auf den ursprünglichen Standort zurück, disponierte das Hinterwerk um und fügte mehrere Register im Hauptwerk hinzu. Im Jahr 2000 restaurierte Eule das Instrument erneut und stellte den Originalzustand wieder her, dabei blieb die 1870 hinzugefügte Pedalkoppel erhalten. „Die Zschortauer Orgel ist eher ein kammermusikalisches Instrument“, erklärt Halubek. „Sie wurde deutlich später erbaut als die beiden anderen Orgeln und verfügt über individuell intonierte Register wie Viola da Gamba und Grobgedackt. Die sorgen für runde, singende Klangfarben, aber die Orgel verfügt auch über ein kräftiges Plenum, man kann auf ihr auch sehr laut spielen. Das hört man auf der Aufnahme auch, die Orgel ist sehr stark, wirklich sehr gesund intoniert. Die Kirche ist im Verhältnis zur Orgel sehr klein, und man zieht vier Register und das ist wirklich sehr laut und sehr physisch. Wenn man darauf ein großes Bach-Werk mit bewegtem Pedal spielt, dann wackelt die ganze Kirche.“

Drei Orgeln stehen auf diesem Album für drei verschiedene Klanglichkeiten. Da Bachs Orgelmusik sehr vielgestaltig ist, hat Jörg Halubek hier einen plausiblen Ansatz gewählt, indem er jedes Werk dieses Albums – je nach Charakter – einer der drei Orgeln zuweist, um der Vielfalt von Bachs Werken auch als Interpret Rechnung zu tragen.

Mario-Felix Vogt

I. Arnstadt

DISPOSITION

Disposition der Orgel in der Bachkirche Arnstadt:
Rekonstruktion der Wender-Orgel (1703)

Stimmtonhöhe: Ganzton über a’=465 Hz a1 = 465 Hz / 18 °C,
Winddruck: 72 mm/Ws, wohltemperierte Stimmung

Brustpositiv (I) CD-c3

Stillgedacktes 8′
Principal 4′
Spitzflöte 4′
Nachthorn 4′
Quinta 3′
Sesquialtera doppelt
Mixtur III

Hauptwerk (II) CD-c3

Principal 8′
Viola di Gamba 8′
Quinta dena 8′
Grobgedacktes 8′
Gemshorn 8′
Offene Quinta 6′
Octava 4′
Mixtur IV 2′
Cymbel doppelt 1′
Trompete 8′

Pedal CD-c1d1

Sub Baß 16′
Principal Baß 8′
Posaunen Baß 16′
Cornet Baß 2′

Nebenzüge und Koppeln:
Cymbelsterne in C-Dur und G-Dur
Koppeln: I/II, II/P, Tremulant für ganze Orgel

II. BRANDIS

DISPOSITION

Stadtkirche Brandis
Orgel von Christoph Donat (1705)

Hauptwerk (I) CD-c3

Grobgedackt 8′
Quintadena 8′
Principal 4′
Rohrflöte 4′
Octave 2′
Quinte 1 1⁄2′
Sesquialtera II
Mixtur IV

Hinterwerk (II) CD-c3

Gedacktflöte 8′
Octave 4′
Gedacktquinte 3′
Spielflöte 2′
Cornett III

Pedalwerck CD-c1

Subbaß 16′
Oktava 8′
Posaunenbaß 16′

Nebenzüge und Koppeln:
Schiebekoppel II/I + I/P

III. ZSCHORTAU

DISPOSITION

Dorfkirche Zschortau
Orgel von Johann Scheibe (1746)

Manual CD-c3
Quinta Thön 16′
Principal 8′
Viol di Gamba 8′
Großgedackt 8′
Octav 4′
Gedackt 4′
Hohl Flöt 3′
Super-Octav 2′
Super-Octava 1′
Mixtur III–IV

Pedalwerk CD-c1
Subbaß 16′
Violon 8′
Posaun-Baß 16′

Nebenzüge und Koppeln:
Koppel I/P, Tremulant, Calcantenzug