53°14′52.7″N 10°24′47.8″E
LÜNEBURG | ORGELBÜCHLEIN
ALTENBRUCH | CHORAL-PARTITEN

Als 15jähriger besuchte Johann Sebastian Bach zwei Jahre lang die Lateinschule des Michaeliskloster in Lüneburg. Aus dieser Zeit ist zudem mindestens eine Reise nach Hamburg belegt. Für den jungen Bach müssen die Eindrücke der norddeutschen Musikszene mit ihren großen Orgeln und selbstständigen Pedalen, den vielfältigen Zungenregistern, den klaren und ‚scharfen‘ Mixturen, nicht zuletzt auch musikalischen Erlebnisse in der Hamburger Gänsemarktoper beeindruckend und inspirierend gewesen sein. Bachs Choralpartiten tragen deutliche Spuren des norddeutschen Umfeldes, etwa in den opernhaft-ariosen Ausarbeitungen mit französischen Ornamenten oder in den sehr individuellen virtuosen Ausgestaltungen der Variationen, welche die Textausdeutungen zu einzelnen Liedstrophen nahelegen. Demgegenüber steht das in den etwas späteren Weimarer Jahren komponierte Orgelbüchlein, welches den Grundstein für Bachs monothematisches Komponieren bildet: Hier wird das Klangbild eines Chorals über nur ein charakteristisches Motiv geformt. Die Wurzeln dieser kompositorischen Ästhetik können in der frühen Begegnung mit Georg Böhm in Lüneburg angenommen werden.

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DIE INSTRUMENTE

Wie kam der junge Bach in die 270 Kilometer nordwestlich von Ohrdruf gelegene Hansestadt Lüneburg? Im September 1698 war Georg Böhm zum Organisten an Sankt Johannis bestallt worden. Aus Ohrdrufs Nachbarort Hohenkirchen gebürtig, hatte er sich 1693–1698 in Hamburg aufgehalten und in Sankt Jacobi seine Kinder taufen lassen. Ob Johann Christoph Bach durch ihn auf das Ratsstipendium in Lüneburg für seinen Bruder aufmerksam wurde oder die Familie von Johann Sebastian Bachs Schulfreund Georg Erdmann, der ebenfalls im März 1700 nach Lüneburg zog, den Kontakt herstellt, ist unbekannt. Von Lüneburg aus besuchte Bach mehrfach Orgelkonzerte Reinckens in Hamburgs Hauptkirche Katharinen und wir gehen sicherlich nicht fehl, wenn wir Besuche im berühmten Opernhaus bei dem musikbegeisterten Jugendlichen stillschweigend voraussetzen.
In Sachen Orgeln konnte das durch Salzhandel reich gewordene Lüneburg allerdings nicht mit Hamburgs Hauptkirchen konkurrieren. In der Michaeliskirche, dem Erbbegräbnis der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, befand sich an der Nordwand eine mehrfach umgebaute Orgel des 15. Jahrhunderts mit 32 Registern auf drei Manualen und angehängtem Pedal (kurz III/32), das folglich keine eigenen Pfeifen besaß, sondern die Pfeifen des Hauptwerks mitspielte. Mathias Dropa, ein begabter Schüler des berühmten Hamburger Orgelbauers Arp Schnitger, erbaute 1705–1707 eine neue Orgel auf der Westempore. Bach war zu dieser Zeit schon in Arnstadt tätig.
In der Johanniskirche amtierte Georg Böhm an einem rund 150 Jahre alten Brabanter Orgelwerk, das Hendrik Niehoff und Jasper Johannsen aus s’Hertogenbosch 1551–1553 mit III/27 erbaut hatten (im heutigen Gehäuse der markante Mittelteil mit Rückpositiv). Dirk Hoyer ergänzte 1576 im Pedal einen Untersatz 16′, zu dem Dropa 1710 notierte, dass er nur bis Ton F eigene Pfeifen besitze, „sonst ist das Pedal an das Manual angehenget.“ Die ausgesuchten Klangfarben erlaubten ein differenziertes Klangbild, aber die Klaviaturumfänge von CDEFGA–g2, a2 in den Manualen und CDEFGA–c1 im Pedal beschränkten die Literatur. Für Bach mag dies eine Vorbereitung für die Arnstädter Jahre gewesen sein, denn die 1611 von Ezechiel Gretzscher in der Oberkirche erbaute Orgel besaß dieselben Umfänge. Georg Böhm plante eine Modernisierung seiner Orgel, die Dropa erst 1712–1715 ausführen konnte. Das Renaissancegehäuse ergänzte er durch die großen Pedaltürme und erweiterte die Disposition auf III/40.
Die größte Orgel der Stadt fand Bach in Sankt Lamberti. Michael Praetorius überlieferte 1619 im Syntagma Musicum für das Mitte des 15. Jahrhunderts erbaute Orgelwerk eine Disposition mit III/59. Die Klänge des bleihaltigen Pfeifenwerks dürften Bach aus seiner Thüringer Heimat vertraut gewesen sein, zumal mit Gottfried Frietzsch im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts ein kursächsischer Hoforgelbauer von Dresden über Braunschweig und Wolfenbüttel nach Hamburg zog und hier klangliche Spuren hinterließ. Dessen Sohn Hans Christoph Frietzsch erweiterte 1647 die im ausgehenden 15. Jahrhundert entstandene Orgel in Sankt Nikolai zu Altenbruch auf II/25 und stellte sie mit neuem Gehäuse auf eine neue Orgelempore an der Nordwand. Nachdem Dropa das Instrument 1698 modernisiert hatte, baute Johann Hinrich Klapmeyer 1727–29 im Zuge einer Kirchensanierung neue Windladen mit größerem Klaviaturumfang und stellte das heutige, nach dem „Hamburger Prospekt“ konzipierte Gehäuse mit den seitlichen Pedaltürmen auf der Westempore auf. Das zuletzt 2004 durch Hendrik Ahrend restaurierte Instrument erklingt mit einer Temperatur nach „Werckmeister III modifiziert von Jürgen Ahrend“, die im Sinne barocker Tonarten-Charakteristik eine textbasierte harmonische Ausdeutung von Choralvorspielen unterstützt. Auf der gleichstufig temperierten Johannisorgel in Lüneburg (durch Rudolf von Beckerath aus Hamburg zuletzt 1976 restauriert) spielte Jörg Halubek hingegen das Orgel-Büchlein ein.

aus dem CD-Booklet von Dr. Markus Zepf

I. LÜNEBURG

DISPOSITION

Disposition der großen Orgel zu St. Johannis in Lüneburg
Orgel von Hendrik Niehoff und Jasper Johansen (1551-53), Matthias Dropa (1712-15), Rudolf von Beckerath (1951-53)

Winddruck 78 mm/WS
Tonhöhe 440 Hz
Stimmung gleichstufig

Rückpositiv (I) C-g3

Prinzipal 8′
Gedackt 8′
Quintadena 8′
Oktave 4′
Rohrflöte 4′
Sesquialtera 2f
Waldflöte 2′
Sifflöte 1 1/3′
Scharff 5-7f, 1′
Dulzian 16′
Bärpfeife 8′

Hauptwerk (II) C-g3

Prinzipal 16′
Quintadena 16′
Oktave 8′
Gedackt 8′
Oktave 4′
Nachthorn 4′
Quinte 2 2/3′
Oktave 2′
Bauernflöte 2′
Mixtur 6-8f, 1 1/3′
Scharff 4-5f, 2/3′
Trompete 16′
Trompete 8′
Trompete 4′

Oberwerk (III) C-g3

Prinzipal 8′
Rohrflöte 8′
Oktave 4′
Blockflöte 4′
Nasat 2 2/3′
Gemshorn 2′
Terzian 2f
Oktave 1′
Mixtur 5-6f, 1′
Zimbel 3f, 1/6′
Trompete 8′
Dulzian 8′

Pedal C-f1

Prinzipal 16′
Untersatz 16′
Oktave 8′
Gedackt 8′
Oktave 4′
Nachthorn 2′
Bauernflöte 1′
Rauschpfeife 2f
Mixtur 6-8f, 2′
Posaune 32′
Posaune 16′
Trompete 8′
Trompete 4′
Kornett 2′

Koppeln:
OW/HW, RP/HW,OW/Ped, HW/Ped, RP/Ped
Tremulanten OW, RP

KLANGFARBEN

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II. ALTENBRUCH

DISPOSITION

Disposition der Klapmeyer-Orgel in St. Nicolai zu Altenbruch
Orgel von Johannes Cocus (1497-98), Hans Christoph Fritzsche (1647-49), Matthias Dropa (1697-99), Johann Hinrich Klapmeyer (1720)

Winddruck: 77 mm WS
Tonhöhe: a’ = 478,6 Hz bei 18° C’ (Chorton, ca. ½ Ton über „heute normal“)
Stimmung: Werckmeister III modifiziert

Rückpositiv (I) C,D,E,F,G,A, – c3

Principahl 8′
Gedackt 8′ Fr/*
Quintadöhn 8′ Fr
Octav 4′ ä/Dr
Gedackt 4′ Fr
Nasat 3′ ä
Super Octav 2′ Dr
Blockflöt 2′ ä
Sexquialtera II Fr
Scharff IV Fr
Dulcian 16′ Fr
Kromphorn 8′ Fr/Dr

Oberwerk (II) C,D,E,F,G,A, – c3

Quintadohn 16′ Fr/*
Principahl 8′ Fr
Gedackt 8′ Fr
Octav 4′ Fr
Waldflöt 2′ Fr
Mixtur V Fr
Simbel III Fr
Trommeth 8′ Kl
Vox humana 8′ Kl

Brustwerk (III) C,D,E,F,G,A, – c3

Gedacktes 8′ Kl
Gedackt 4′ Kl
Super Octav 2′ Kl
Quint 1 1/2′ alt (?)
Scharff III Kl
Knop Regal 8′ Kl

Pedal C, D, E, – d1

Untersatz 16′ ä/*
Prinzipahl 8′ Kl
Gedackt 8′ Dr
Octav 4′ Dr
Mixtur IV Dr
Posaun 16′ Fr/Dr
Trommeth 8′ Fr/Dr
Corneth 2′ **/A

Ventile für alle Werke, Tremulant ganzes Werk, Tremulant RP, 2 Zimbelsterne
Manualkoppel BW an HW, ursprünglich 8 jetzt 4 Bälge

VR-ORGELFÜHRUNG

Orgelführung in Altenbruch mit Anna Scholl.