53°52'15.4"N 10°41'20.7"E
Lübeck, Norden, Goslar | STYLUS FANTASTICUS II

Lübeck steht in Bachs Leben insbesondere für seine Begegnung mit Buxtehude. Die „kleinere“ Orgel der Jakobi-Kirche ist original erhalten und war Bach ziemlich sicher bekannt. In Norden steht die in Deutschland vermutlich besterhaltene Schnitger-Orgel, das prägende Vorbild für den norddeutschen Orgelbau insgesamt. Das sehr große Instrument des Schnitger-Schülers Treutmann in Goslar ist bereits so modern gebaut, dass auch Bachs ausladende Werke darauf gespielt werden können.

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DIE INSTRUMENTE

„So sollten die Orgeln klingen, scharf, über einem gravitätischen Bass“
Gespräch mit Hendrik Ahrend über norddeutsche Orgeln und ihren Klang

 

Süddeutsch, mitteldeutsch, norddeutsch. In solche Schubladen sortiert sich das Phänomen Orgelbau und Orgelklang, jedenfalls im 17. und 18. Jahrhundert. Genaugenommen: von heute aus, retrospektiv. Zu Bachs Zeiten sprach man nicht von Landschaften, sondern eher von Persönlichkeiten, auch von Schulen, denn Orgelbauer geben ihre Kenntnisse und Erfahrungen weiter an ihre Gesellen und Mitarbeiter, die – abhängig auch vom sich wandelnden Geschmack – ihre eigenen Ideen von Orgelbau und -klang verfolgen.

Johann Sebastian Bach verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in der Gegend, die wir heute Mitteldeutschland nennen. Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, Köthen, Leipzig. Jenseits von Dresden, Kassel und Berlin kannte er das Römische Reich deutscher Nation nicht – ausgenommen natürlich noch Lüneburg, Lübeck und Hamburg, wo der junge Musiker für seine Orgelkunst prägende Momente erlebte. Norddeutschland also, wie wir heute sagen.

Wie abhängig also ist Bachs Orgelmusik von norddeutschen Orgeln? Gibt es sie überhaupt, die „norddeutsche Orgel“, den „norddeutschen Orgelklang“? „Es gibt typische Dispositionsmuster in Norddeutschland“, meint Hendrik Ahrend vorsichtig. „Die nord- und mitteldeutsche Musik für Orgel hat einen besonderen polyphonen Stil hervorgebracht, die ein selbständiges Pedal mit der Möglichkeit zur Melodieführung verlangt. Das erkennt man in den größeren norddeutschen Instrumenten sehr deutlich, besonders konsequent realisiert in den Instrumenten Arp Schnitgers.“

Ob nun Meister wie Schnitger besondere Anforderungen der Musik und ihrer Komponisten zu erfüllen versuchten oder ob sich Musiker wie Bach die Möglichkeiten der Instrumente zunutze machten, wertet Ahrend als wechselseitige Befruchtung. Der renommierte Orgelbauer und -restaurator weiß aber: „Die Orgel hat Musiker für komplexe Polyphonie schon inspiriert! Es gab schon sehr früh Mixturen oder Register wie Bauernflöte 2‘ oder Cornett 2‘ im Pedal für die Möglichkeit des cantus-firmus-Spiels. Eine ideale Voraussetzung also für jemanden, der eine Melodie im Pedal spielen will!“

Hendrik Ahrend hat im Jahre 2005 den väterlichen Betrieb im ostfriesischen Leer übernommen. Seit den fünfziger Jahren genießt die von Jürgen Ahrend begründete Orgelwerkstatt den Ruf einer führenden Instanz beim Restaurieren historischer Orgeln im norddeutsch-niederländischen Raum. Die 1985 abgeschlossene Arbeit an der Schnitger-Orgel in der Ludgerikirche Norden gilt als eines ihrer Meisterwerke. „Mein Vater hat mehr historische Pfeifen in der Hand gehabt als jeder andere Mensch auf dieser Welt“, bewundert Hendrik Ahrend. „Er hat immer versucht, zu spüren, wie diese Pfeifen mal geklungen haben könnten.“ Könnten – Konjunktiv also. Denn hier beginnt ein Problemfeld des Restaurierens, das Ahrend als Disziplin des Denkmalschutzes betrachtet. „Hier hat man es immer zu tun mit Bewertung. Man gewinnt etwas, und man verliert etwas“, meint er. „Ziele der Pflege können in Gegensatz mit dem Zweck geraten. Orgeln sollen heute wie früher im Gottesdienst eingesetzt werden, heute sitzen aber nur zwanzig Menschen in der Kirche, um ein Vielfaches weniger als im 18. Jahrhundert.“

Damit spricht der Orgelbauer den Klang an. Wie authentisch, historisch kann er überhaupt sein? Zunächst stammt der Begriff des „Norddeutschen“ in Bezug auf Orgeln und Orgelmusik nicht aus dem 18., sondern dem 20. Jahrhundert. Stichwort: Orgelreform, Orgelbewegung, Namen wie Albert Schweitzer, Hans Henny Jahnn, Christhard Mahrenholz. „Man blickte zurück auf die Barockorgel, die neu entdeckt werden sollte“, gebt Ahrend hervor. „Das war ein großes Missverständnis. Man wollte die Bach-Orgel hervorbringen, die Bach selbst nie gehabt hat. Man hat Anleihen bei älteren Orgeln genommen, ohne sie eigentlich recht zu mögen.“ Ein überraschender Befund – was mochte man an den Wunschvorstellungen nicht?

Orgeln mit dem ursprünglichen Winddruck und den Aufschnitten der Pfeifen, wie Jürgen Ahrend sie dokumentierte, klangen einfach zu scharf und zu laut und muteten dem Hörer einiges zu. „Das Problem besteht darin, dass die Barock-Orgel besonders viele Schrei-Stimmen hatte“, fährt Ahrend fort. „Dieser Begriff hat sich im 19. Jahrhundert als ein abwertender etabliert, im 18. Jahrhundert aber war er populär. So sollten die Orgeln nämlich klingen, scharf, über einem gravitätischen Bass. Im 19. Jahrhundert hat man jedoch zum Angriff auf die Mixturen geblasen. Der Klang sollte gemütlicher werden.“ Dass man im Barock milde, silbrig klingende Mixturen wollte, ist also ein Märchen. „Das führt dazu, dass bei den meisten restaurierten Orgel die Winddrücke niedriger sind als in der Barockzeit“ – was aber sollen die heutigen Orgelbauer dann restaurieren, und wie wirkt sich diese Ambivalenz in ihren eigenen Neubauten aus?

Zurück zu Bach, dem in Mitteldeutschland beheimateten Komponisten. Natürlich gibt es keine klare Grenze zwischen Orgelidealen, weder eine geographische noch eine zeitliche. Christoph Treutmann (1673-1757) lernte und arbeitete wahrscheinlich bei Arp Schnitger in Hamburg, lebte in Magdeburg und erbaute 1737 das Instrument in Grauhof, mit prächtig vollstimmigem Pedal. In dieser Gegend wirkte auch Christian Förner, der wiederum die Orgelbauer der aus Halberstadt stammenden Familie Trost beeinflusste; Heinrich Gottfried Trost (um 1680-1759) erbaute die Orgeln in Waltershausen und Altenburg und gerät damit ins Blickfeld Johann Sebastian Bachs und seiner Schüler.

„Bachs bevorzugter Orgelbauer war aber Johann Friedrich Wender“, ebenfalls ein Enkelschüler Förners. Hendrik Ahrend zieht diese Linien, um die Abhängigkeiten und Zusammenhänge von Orgelbauern, Persönlichkeiten, Schulen und Ideen zu betonen. Wender (1655-1729), dessen Orgeln Bach u.a. in Arnstadt und Mühlhausen begegnete, „hat mehr ‚norddeutsch‘ gearbeitet als Silbermann und Trost. Er hat besonders die Kehlen bei den Zungenregistern so gebaut, dass sie ‚norddeutsch‘ klangen. Bach hat diesen Klang sehr geschätzt!“ Anders als die Orgeln von Gottfried Silbermann, die Bachs polyphonem Ideal, meint Hendrik Ahrend, weniger entsprachen. Abgesehen von den „großen“ in Dresden und Freiberg. Aber das ist eine andere Geschichte: die vom mitteldeutschen Klang!

Dr. Andreas Bomba

I. LÜBECK

DISPOSITION

Disposition der Orgel in St. Jacobi zu Lübeck
Friedrich Stellwagen (1636/37)

 

Stimmtonhöhe: Ganzton über a’=440 Hz bei 20 °C
ungleichschwebende Temperatur nach Heinrich Scheidemann

Rückpositiv (I) CDEFGA-c3

Gedackt 8′
Quintadena 8′
Principal 4′
Hohlflöte 4′
Sesquialtera II
Scharf III–IV
Trechterregal 8′
Krummhorn 8′

Hauptwerk (II) CDEFGA-c3

Principal 16′
Octave 8′
Spillpfeife 8′
Octave 4′
Nasat 2 2/3′
Rauschpfeife II
Mixtur IV
Trompete 8′

Brustwerk (III) CDEFGA-c3

Gedackt 8′
Quintadena 4′
Waldflöte 2′
Cimbel II
Regal 8′
Schalmei 4′

Pedal CD-d1

Subbaß 16′
Principal 8′
Spillpfeife (HW) 8′
Octave 4′
Gedackt 4′
Flöte 2′
Rauschpfeife IV
Posaune 16′
Trompete (HW) 8′
Trompete 4′
Regal 2′

Nebenzüge und Koppeln:
Sperr Ventile zu allen Manualen und Pedal
Schiebekoppel zum mittlern Manual (II/I)
Schiebekoppel zum obern Manual (III/II)
Machin Zug zum Echo
Tremulant, Accordstern, Calcant

II. NORDEN

DISPOSITION

Ludgerikirche Norden, Orgel von Arp Schnitger (1686/87)

Tonhöhe: a’ = 473 Hz (5/8 Ton über 440 Hz)
Stimmung: erweitert mitteltönig (1/5 Komma), Winddruck: 71,5 mm/WS

RÜCK-POSITIV (I) CDE-c3 (gebrochene Oktave)
Principal 8’
Gedact 8’
Octav 4’
Rohrfloit 4’
Octav 2’
Waldfloit 2’
Ziffloit 1’
Sexquialt 2fach
Tertian 2fach
Scharff 6fach
Dulcian 8’

WERCK (II) CDEFGA-c3 (kurze Oktave)
Principal 8’ (Prospekt)
Quintadena 16’
Rohrfloit 8’
Octav 4’
Spitzfloit 4’
Quinta 3’
Nasat 3’
Octav 2’
Gemshorn 2’
Mixtur 6fach
Cimbel 3fach
Trommet 16’

BRUST-POSITIV (III) CDEFGA-c3 (kurze Oktave)
Gedact 8’
Plockfloit 4’
Principal 2’
Quinta 1½’
Scharff 4fach
Regal 8’

OBER-POSITIV (III) CDEFGA-c3 (kurze Oktave)
Hollfloit 8’
Octav 4’
Flachfloit 2’
Rauschpfeiff 2fach
Scharff 4.5.6fach
Trommet 8’
Vox humana 8’
Schalmey 4’

PEDAL CDE-d1 (verkürzte Oktave)
Principal 16’
Octav 8’
Octav 4’
Rauschpfeiff 2fach
Mixtur 8fach
Posaun 16’
Trommet 8’
Trommet 4’
Cornet 2’

Nebenzüge und Koppeln:
Schiebekoppel III an II
2 Tremulanten (Rückpositiv, Oberpositiv), Cimbelsterne (Rückpositiv), Vogelgesang
5 Sperrventile, 3 Keilbälge mit Tretanlage

III. GOSLAR

DISPOSITION

Klosterkirche St. Georg am Gut Grauhof, Orgel von Christoph Treutmann (1737)

Tonhöhe: ca. 5/8 Ton über normal
Stimmung: wohltemperiert (Kellner/Bach, 1/5 Komma)
6 Keilbälge, Winddruck: 72mm/WS

Hinterwerck (I) CD-c3
Gedackt 8′
Quintadena 8′
Principal 4′
Flöte Travers 4′
Octava 2′
Waldflöte 2′
Quinta 1 ½’
Scharff 3 f.
Hautbois 8′

Hauptwerk (II) CD-c3
Principal 16′
Viola di Gambe 16′
Lieblich Prinicipal 8′
Spitzflöte 8′
Viola di Gambe 8′
Quinta 6′
Octava 4′
Nassat 3′
Rauschpfeiffe 3 f.
Mixtur 4-5-6 f.
Trommet 16′
Trommet 8′

Oberwerck (III) CD-c3
Principal 8′
Rohrflöte 8′
Octava 4′
Spitzflöte 4′
Quinta 3′
Superoctava 2′
Sesquialtera 2 f.
Mixtur 5 f.
Fagott 16′
Vox humana 8′

Pedalwerck CD-d1
Principal 16′
Soubbas 16′
Rohrflöte 12′
Octava 8′
Flachflöte 8′
Superoctava 4′
Mixtur 4 f.
Groß Posaunen Baß 32′
Posaune 16′
Trommet 8′
Schalmey 4′

Nebenzüge und Koppeln:
Schiebekoppel OW/HW, Koppel HiW/HW
Clavier-Glockenspiel, Tremulant (für das ganze Werck), 2 Cymbelsterne